Es war einmal

Jagdreviere

Da stehe ich nun und kann es kaum fassen. Langsam lasse ich den Blick über die Wiese schweifen. Einzelne Heuballen, gewickelt, sind das Einzige, was sich im Moment dort befindet. Im Hintergrund hört man wieder den Lärm der nervigen Autobahn. Ein gleichmäßiges, lautes Brummen und Rauschen, welches mich schon früher während der Tonbandaufnahmen fürchterlich störte. Es versaute jegliche saubere Aufnahme der Brunftrufe der Hirsche.
Was bin ich hier schon gelaufen und damals, als es die DDR noch gab, herrschte Stille. Selten, dass auf diesem Abschnitt der Autobahn jemand fuhr. Denn wenn, dann waren es die Besucher aus dem Westen oder Transitreisende, wie es hieß, gen oder von Berlin. Nun gut, das war gestern, einige Jahre her. Nun durfte jeder... und ich auch zur Jagd gehen, sogar hier. Hier, in Teilen des vormaligen „Staatsjagdreviers“. Jetzt, denn davor war das trotz bestandener Prüfung nur heimlich erlaubt. Und das, was ich zur Zeit tat, davon träumten manche nur. Ansitzen und Jagen im Rotwildrevier. Und was für eins. Was für starkes Rotwild es hier gibt. Noch. Noch immer. Nicht mehr so viele, aber das waren ja auch viel zu viele, für den Wald die blanke Katastrophe. 
Ich weiß es. Von früher. Da standen riesige Rudel auf den Feldern und fraßen am Raps oder Rüben. Mein Gott, was hab ich gelacht, als unsere Nachbarn mit mir nach draußen gingen, um Brunft zu erleben. Ich wusste, wo man sie findet. Und großartig Suchen brauchte man da nicht. Es war spätabends, finster, und so sah Andreas, der Nachbar, den Weidezaun nicht – der blöderweise auch noch unter Strom stand.
„Daaaa! Ddddaaaa...!“ Und er zeigte mit der Hand auf das Rudel vor uns auf dem Feld, hin und weg, wie viele das waren. Im nächsten Moment jaulte er auf und machte einen Satz nach rückwärts. Vorsicht, Strom. Muss arg wehgetan haben, erzählte noch länger davon, aber vielleicht war es ja auch mehr der Schreck.
Die Zeiten sind vorbei. Überhaupt ist vieles vorbei, Schlechtes wie Gutes. Leider auch die Jahre mit meinem Förster. Er war vor kurzem gestorben, er, der wirklich ein Freund war, ein super Jäger, und welch Ruhe er immer ausstrahlte. Wie oft waren wir gemeinsam draußen. Was mich nervte: Er hatte für alles Nachsicht. Ein Waage-Mensch eben. Ob ihn tatsächlich mal etwas aufregte, weiß ich nicht. Denk schon, nur sprach er nicht drüber.
Er hat mich begleitet. All die Jahre meines „noch-nicht“ oder „aber-bald“ oder „nun-endlich“ Jägerlebens. Das war wirklich ein Mentor.
Als man mir meinen Hund erschoss, der noch jung war und bloß vom Auto der Jäger, neugierig wie er war, zu uns zurück wollte, leider in Richtung Wald, wo wir grad liefen, also Mann und Kinder,  hatte ich auf seine Empfehlung hin zuvor Antrag auf Aufnahme in die Jagdgesellschaft gestellt, in deren Bereich ich damals wohnte. Und weil ich das nicht so auf sich beruhen ließ, sondern ordentlich Wind machte, hatte man seitens dieser Gesellschaft beschlossen, dem nicht stattzugeben. Nun gut, da wollte ich eh nicht mehr rein, denn da gab es ja diese zwei Jäger, die ohne mit der Wimper zu zucken... Interessant war die Begründung der Ablehnung: „Da ich nie auf Hunde schießen könnte“, hatte ich doch da nicht mal Nachsehen. Im übrigen hatten diese zwei netten Gesellen nicht mal eine Kugel für den immerhin Schäferhund übrig. Vier Salven Schrot und er jaulte.... jaulte... Wir waren ja in der Nähe.
Erst wollte ich keine Jägerin mehr werden und hielt das über ein Jahr durch. Aber dann meinte eben dieser Förster, dass nicht alle so seien und ich wäre dafür doch wirklich geeignet.   Und so kam ich in eine andere Jagdgesellschaft. Ohne sein Zutun „hintenherum“ und Fürsprache ganz sicher nicht.
Und was hatte er mir später noch geholfen, abgesehen von allem anderen, was ich in diesen Jahren bei ihm lernte. Ein echter Mentor, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, und ein guter Freund, zu dem er dann immer mehr wurde. Nie habe ich Neid erlebt auf irgendwas, was andere geschossen haben. Mir ist er oft begegnet. Von anderen mir gegenüber, logisch.
Ja, und da stehe ich nun, da, wo alles angefangen hatte, denn hier war ich auch viel früher schon „pirschen“, ohne daran zu denken, jemals zur Jagd zu gehen. Überhaupt und schon gar nicht hier. Man hatte mich gefragt – und ich war begeistert. Zu jener Zeit hatte ich bereits eine regelrechte Revier-Odyssee hinter mich bringen müssen.
Ich beginne von vorn.
Die Lehrzeit bestand in Warten und Hoffen, als Treiberin durch die Wälder laufen, Füttern, Praktisches erlernen, sprich Wildäcker anlegen, Leitern und Kanzeln errichten, Kirrungen und Luderschächte beschicken, Aufbrechen, Versorgen oder auf Drückjagden fürs leibliche Wohl sorgen. Und das habe ich über Jahre durchgehalten. Ich war dabei und draußen, was anderes war nicht so wichtig. Alles recht zeitaufwendig, nur irgendwie hab ich es geschafft, trotz Vollzeitjobs und Familie plus Garten. Ich denke, weil es damals noch anders war, andere Bedingungen insgesamt. Heute ist die Zeit weg und man hat für sich selbst nicht mal was gemacht. Zu viel für andere, von dem man nichts hat.




Im ersten Revier

Das erste Revier, in dem ich nach bestandener Prüfung auch als Jungjägerin eingeteilt oder zugeteilt wurde, lag einige Kilometer abseits der Kreisstadt unterhalb eines Dorfes, am Vorderhang des dort höchsten Berges und in unmittelbarer Nähe der damaligen innerdeutschen Grenze. Ich lief auf den Berg, auf dem auch eine Funkanlage stand, und stoppte an Schildern, die ein Weitergehen verboten, schaute hinunter, in die andere Richtung, und sah die Lichter der Orte in Oberfranken. Wäre gern durch den Wald weitergelaufen – aber es ging nicht. Und als es dann ging, war meine Zeit als Jägerin, gerade begonnen, dort schon fast vorbei. Es wurde verpachtet. Der Kapitalismus hatte Einzug gehalten und damit auch das „Bundesjagdgesetz“. Ich kannte dieses Revier so genau, dass ich aus dem Kopf eine Karte zeichnete, mit sämtlichen Gegebenheiten, Wildwechseln, markanten Bäumen... Zu Weihnachten und Silvester ging es immer extra hinaus. Nicht auf Jagd, mit den Kindern zum Füttern.




Ein reiches Niederwildrevier. Ich erlegte in diesen Jahren Rehwild, Schwarzwild, Füchse, Hasen, Wildtauben und sogar einen Hirsch, nahm nach über vier Jahren, die Lehrzeit dort mitgerechnet, schweren Herzens Abschied und machte mich nach der Verpachtung auf die Suche, um entweder als unentgeltliche oder entgeltliche Begehungsscheininhaberin irgendwo jagen zu können. Pachten ging erst nach drei vollen Jägerjahren. Damals fing es an, dass ich enttäuscht registrierte, wie es größtenteils um die "jagende Männerwelt" bestellt ist. Ich war es nur nicht gewohnt. Mein Förster war anders. Knapp gesagt: So wie woanders auch. Konkurrenzdenken, Egoismus, Neid und ein merkwürdig gutes Selbstbild.  Und wehe, daran rüttelte einer. Heute würde ich es registrieren, mit der Schulter zucken und einfach so weitermachen. Damals fühlte ich mich in vielem betrogen und war immer wieder enttäuscht.

Revier Nummer Zwei und Drei

Es waren kleinere Reviere, streckenweise ans frühere angrenzend. Altholz, Dickungen, Wiesen, Felder, sie waren abwechslungsreich, und in  ihnen war ich "allein verantwortlich", weil die Pächter „von drüben kamen“, hatte dadurch sogar ziemliche Freiheit, aber auch eine Menge zu tun. Wenn die Pächter weidgerecht gejagt hätten, wäre es  gar nicht so übel gewesen und ich vermutlich geblieben. Nur hatten sie das eben nicht und zu was das manchmal führte, steht in den kleinen Erzählungen. Wer weiß denn auch, ob sie es nach Ablauf der Pachtzeit noch einmal würden pachten können. So dachten viele. Sie waren wichtig, ihr Geldbeutel, Wald, Reviere und Wild egal. Also Schießen was geht und kontrolliert hat sie keiner. Erlegt habe ich darin Rehwild, Sauen und Füchse.
Ein solches Jagen ging mir mächtig verquer und so kam es zu....

Revier Nummer Vier.

Das schloss sich sogar beinahe an unser Wohnhaus an. Endlich war ich zahlender Begehungsscheininhaber, sogar anteilig in gleicher Höhe wie die drei  Pächter mit auch anteilig gleichen Rechten, was das Jagen betraf. So sollte es sein, so war es gedacht. Wie es dann wirklich geworden und  gewesen ist, steht in einer der Erzählungen. Zwei der Pächter waren, menschlich betrachtet, unerträgliche Charaktere. Und so ging ich auch dort nach einiger Zeit. Aber es war eben toll, die Waffe zu schultern und auf Ansitz zu laufen, nicht erst ins Auto steigen zu müssen... Ich sah aus dem Küchenfenster und wusste, gleich hinter dem schmalen Waldstreifen tut sich so einiges. Der hat die neue Zeit übrigens nicht überlebt. Er fiel einem riesigen Plattenwerk zum Opfer, genau wie die Wiesen, auf denen ich Füchse jagte. Die "neue Zeit" war ja auch der Grund gewesen, warum ich später von diesem Ort wegzog. Es war kein wildreiches Revier, nicht so interessant wie jene zuvor, aber irgendwie lags mir am Herzen, vermutlich, weil ich da zu Hause war. Rehwild, Füchse und ein Rothirsch waren  "die jagdliche Ausbeute".

Revier Nummer Fünf

Jagdrevier für nur sehr kurze Zeit. Obwohl.... jagen, da gabs nichts zu jagen und das war dann auch der Grund, warum auch mein Begehungsschein nach nicht mal einem Jahr (ich war erst später eingestiegen), so wie der eines weiteren Mitjägers, nicht mehr verlängert wurde. Dieses Revier gab jagdlich nichts her und konnte gerade mal die zwei Pächter verkraften. Tatsächlich zu wenig Wald und Wild und erlegt hab ich dort darum auch.... nichts. Es war unbedeutend, auch die Monate dort.

Revier Nummer Sechs.

Es lag diesmal, verhältnismäßig, doch ganz schön entfernt von dem Ort, wo ich wohnte, und erst recht zu weit, als ich den Wohnort wechselte und in die unmittelbare Nähe des Revieres zog, in dem ich als Gast mit meinem Förster gelegentlich mal auf Jagd war, oder noch früher zum Hirsche verhören. Der Pächter von "Nummer sechs" kam zwar mal wieder aus den Altbundesländern, hatte aber beim Revier seinen Wohnsitz genommen und war ein weidmännischer Jäger. Das Zwischenmenschliche passte auch. Das Revier selbst besaß eine gute Struktur, war landschaftlich reizvoll. Sogar Muffelwild kam dort vor. Ich selbst konnte allerdings keins erlegen. Was ich nicht so gut fand, waren einige hohe Ansitze, die nur über eine senkrecht (!) verlaufende Leiter erklommen werden konnten. Jedes Mal eine Zitterpartie. Da hätte nur eine Sprosse... und ich wäre rückwärts... was dann einem anderen Jäger auch so passierte. Damals hatte ich aber schon das Revier gewechselt, denn während eines gemeinsamen Leiterbaus in Revier sechs erreichte mich die schockierende Nachricht vom Tod des Försters.  Bei seiner Beerdigung wurde ich gefragt, ob ich nicht in dem Revier mitjagen wolle, in dem so viele Jahre zuvor alles begann und welches immer meine eigentliche jagdliche Heimat gewesen war. Dort, wo auch der Förster sein Revier hatte. Und so kam ich ins Revier Nummer Sieben.... und auf diese Wiese an jenem Abend, wo ich mit äußerst gemischten Gefühlen stehe und mich erinnere.






Revier Nummer sieben.... An einen ganz besonderen der gemeinsamen Pirschgänge vom Förster und mir durchs Revier, als es das noch nicht war, kann ich mich noch gut erinnern und ist natürlich auch detailreich in meinem Jagdtagebuch verewigt. Aus diesem Grund weiß ich sogar noch den genauen Tag. Es war an einem 14. Mai und das Wetter tagsüber grausig. Es regnete und regnete und ich sah Schwarz für die geplante Pirsch mit meinem Freund. Doch dann ließ der Himmel Gnade walten und es wurde ein ruhiger, herrlicher Abend. Zunächst liefen wir zu diesem kleinen Tal, wo ich auch mit der Familie öfter spazieren ging, natürlich bei mir immer mit dem Hintergrund, eventuell Rotwild zu sichten und zu fährten.  Auf einer echten Pirsch war ich da aber noch nie.
Zunächst sahen wir fünf Stück Rotwild auf der Wiese äsen, gleich zu Beginn und links des dortigen "Dammes". Danach gewahrten wir ein einzelnes Stück Rotwild im Tal, und kurz hinter dem Ausgang erblickten wir eine trächtige Ricke. Sie ließ uns beachtlich nah herankommen. Ein Stück weiter stand rechts des Weges, wir immer in Richtung eines, allerdings fernab liegenden Dorfes laufend, ein Böcklein, dicht daneben ein Rotspießer, der bereits geschoben hatte. Und was hatten wir für Zeit, sie zu betrachten! Später entdeckten wir noch ein Rudel von vier oder fünf Stück Rotwild sowie ein kleineres von drei. Und das alles hatte sich auf nur rund acht Kilometern gezeigt! Viel weiter waren wir da nicht gelaufen.
Und so ging es immer weiter an diesem tollen Abend, der das Wild nach dem Regen auf die Flächen zum Äsen brachte. Wir liefen rechts des Hauptweges immer weiter den dann offeneren Wiesengrund entlang. Am Morgen hatte der Förster dort ein großes Rudel beobachtet, wie er mir berichtete. Und wirklich standen da weitere sechs Stück Rotwild beim Äsen, friedlich und sicher, obwohl wir uns bis auf 100 oder 150 Meter näherten. So nah, dass wir erkennen konnten, dass einer der Hirsche bereits die Augsprosse angesetzt hatte. Wir rasteten und nachdem wir etwa 20 bis 30 Minuten so am Waldrand saßen, still das Rudel und einen Krummen beobachtend, machten wir uns dann doch auf den Nachhauseweg, denn es wurde allmählich finster. Und da stand doch tatsächlich auf einer der Wiesen noch eine einzelne Sau! Die Vermutung einer Bache lag sehr nahe und so musste der Finger gerade bleiben. Vor dem Jagdhaus angekommen, konnten wir noch ein dreiköpfiges Rudel Rotwild entdecken. Enten und Graureiher hatten wir ebenfalls auf dieser Pirsch in Anblick. Da fehlte nichts. Nichts. Ich war glücklich und zufrieden.

Da haben sich Kreise geschlossen. Es ist Glück und Wehmut zugleich, was ich empfinde. Und dann kullern Tränen. Er fehlt mir, als Freund, als jagdlicher Begleiter, als Ratgeber da wie dort. Hatte ich Sorgen, rief ich ihn an und er meinte locker: "Komm rüber, wir trinken einen Tee." Oder: "Ich hab noch eine Forelle eingefroren". Das hieß dann: "Ich brate, du berichtest und wir sehen schon weiter." So war es dann auch. Und beinahe jeder Sitz erinnert an diese Zeiten. Und trotzdem war es schön, in diesem Revier zu sein, wieder das Rotwild zu sehen oder zu hören.
Der Pächter lebte im benachbarten Oberfranken und konnte sich dieses teure Hochwildrevier damals noch bestens leisten.  Ich war ihm zuvor schon mal begegnet, nach einem Pirschgang mit dem Förster, und empfand ihn als Besserwisser und arrogant. Aber das war ja mit wenigen Ausnahmen jeder, der damals, nach der Wende, "von drüben" kam. Als Juristin schien ich in seinen Augen aber recht nützlich zu sein, und nicht nur in seinen, und so war ich dort willkommen.
Außer diesem neuen Pächter jagten dort noch zwei weitere Jäger, die von ihm "übernommen worden waren". Er brauchte ihre Kenntnisse und Erfahrungen. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war es eine angenehme Gemeinschaft. Es kippte, als ich... Es ist niedergeschrieben in der Geschichte über den Starken oder "Der Letzte". 



ENDE

Text und Fotos © Hildruth Sommer