Das kanke Kitz
Eine anrührende Geschichte
Als ich damals meinen Freunden und Bekannten mitteilte, ich wolle
Jägerin werden, erlebte ich eine breite Palette an menschlichen
Reaktionen. Von Erstauen bis hin zu unmissverständlichem Fingerzeig an
die Stirn war alles vertreten. Die meisten rieten mir rundheraus ab
und zählten alle Nachteile auf oder versuchten mich mit den Worten:
„Das schaffst du nie!“ vor dem vermeintlich größten Fehler meines
Lebens zu bewahren. Sie hatten sich verrechnet bzw. kannten mich nicht
so gut, wie sie glaubten, denn trotz wahrlich ganzer Berge an
Schwierigkeiten, die sich vor mir auftaten, war ich nach fast sechs
Jahren, die zwischen Beschluss und Vollendung lagen, Jägerin. Viel
Pech, in mancher Hinsicht aber auch Glück, denn meine Lehrer waren
durchweg gute und sehr naturverbundene Jäger. Ich lernte nicht nur das
jagdliche Handwerk von der Pike auf, sondern erkannte die Liebe zur
Natur als unabdingbaren Grundsatz der Jagdausübung.
Sicher, mich hielt schon vor dieser geäußerten Absicht nichts in der
behaglichen Stube. Wenn andere sich hinter dem Ofen verkrochen, weil
es regnete und draußen zu ungemütliches Wetter war, zog ich meine
bewährten Klamotten an, nahm den Hund und machte mich auf den Weg.
Mir war es recht, wenn sich die Natur nicht maßgeschneidert für
Ausflügler zeigte. Es gab nichts Schöneres als Bäume, die dem Sturm
trotzten und sich im Wind bogen. Ich liebte das leise Geräusch
tropfenden Regens auf die Blätter, das Glitzern taubehangener
Spinnennetze an den Zweigen von Himbeerbüschen, den Anblick tief
verschneiter Fichten und das Knacken der Äste bei starkem Frost.
So oft es ging, nahm ich meine Kinder auf diese Spaziergänge mit, um
ihnen nicht nur das Sehen mit den Augen, sondern auch das mit dem
Herzen nahezubringen.
Mein Sohn fragte oft beim Rauschen der Bäume im Wind: „Mutti, was
erzählen sie sich jetzt?“
Dann mußte ich mir rasch eine interessante Geschichte ausdenken.
Manchmal war mir aber, als würde ich sie doch verstehen und nur
wiedergeben, was sie tatsächlich sagen.
Anhand der zahlreichen Zeichen, Fährten und anderen Beobachtungen im
Wald, begriffen sie schnell, dass der scheinbar so ruhige Wald viel
Leben und Spannung bietet. Nur meine Tochter hatte nicht gar so viel
damit am Hut, je älter, desto weniger.
Ein mäuselnder Fuchs auf der weiten, schneebedeckten Wiese, der
rufende Tauber auf dem Wipfel der Fichte, der klopfende Specht am
Baumstamm, die plötzlich in der Dämmerung über den Köpfen
hinwegstreichende Waldohreule und der gerade entdeckte Fuchsbau -
kleine Begebenheiten und für viele leider unbedeutend. Sie boten
genügend Anlaß, jede Waldwanderung für die Kinder und damit auch mich
zum großen Ereignis werden zu lassen.Na ja... eine Zeit lang... Nachts
war es Abenteuer. Zuweilen gingen sie mit auf Ansitz, gern allerdings
nicht, wie sie mir später gestanden. Ihnen hätten die Tiere oft leid
getan. Trotzdem wurde so manches Erlebnis in den Jahren als Jägerin
dadurch zur Angelegenheit der gesamten Familie, wie auch die
Begebenheit mit dem kranken Kitz.
Es war an einem Augusttag. Ich hatte
gerade die ersten Wochen nach bestandener Prüfung als Jungjäger und
eine schwere Krankheit mit riskanter Operation gemeistert. Dürr war
ich geworden - es war eine schlimme Zeit. Überstanden, und die
ersten Jagderfolge durfte ich ebenfalls vorweisen. Ein schwaches
Schmalreh und einen geringen Jährling hatte ich bereits auf die
Decke gestreckt. Und genau dort, wo ich Letzteren erlegte, hoffte
ich auf einen etwas stärkeren und älteren Bock. Ich jagte im
Hegebereich von G., einem meiner „Lehrer“, so wie es über die
damaligen Jagdleiter der Jagdgesellschaften festgelegt wurde. Was zu
strecken war bestimmte der jährliche Abschussplan der
Gesellschaften. Und natürlich richtete ich mich auch nach den
Absprachen mit ihm, der bereits lange Zeit im gleichen Revier hegte
und jagte.
Die Blattzeit neigte sich nun dem Ende zu und
ich empfand eine Art Erfolgsdruck, als ich an diesem Augustabend
aufbaumte. Das windige und regnerische Wetter war alles andere als
vorteilhaft. Mein Ehrgeiz meldete sich, denn ich wollte unbedingt
beweisen, dass auch kleine Frauen durchaus in der Lage sind "große
Strecke" zu machen. Noch immer hatte ich gegen Vorurteile
anzukämpfen. Die Freude an der Natur brachte diese Gedanken jedoch
schon bald zum Erliegen. Ich hatte mich in der Kanzel eingerichtet.
Der Rucksack lag unter dem Sitzbrett, die Waffe stand geladen und
gesichert in der linken Ecke. Auf dem Sitzbrett lag mein Fernglas
und daneben griffbereit die Verpflegung für den langen Abend: zwei
herrlich duftende Leberwurstschnitten. Ob ich schon ...? Der
Anmarsch zum Ansitz bei frischer Waldluft hatte meinen Appetit
angeregt. Ich konnte nicht widerstehen. Im Kauen schaute ich mich
draußen um. Eine friedliche Stille lag über dem Revier. Kein Mensch
war bei diesem Wetter unterwegs und Störungen somit wenig zu
befürchten. Tief sog ich die würzige Regenluft ein und beobachtete
die leichten Bewegungen der Baumwipfel im Wind. Na gut. Ein älterer
Bock wird heute nicht zu erwarten sein. Aber vielleicht ...
vielleicht wechselt gar mal eine Sau über die Wiese? Oder Rotwild?
So träumte ich eine Zeitlang vor mich hin. Es hatte aufgehört zu
regnen, auch der Wind rauschte sanfter durch die Bäume. Ein Blick
auf die Uhr zeigte, dass ich noch zwei Stunden ansitzen konnte. Auf
der Wiese links von der Kanzel tummelten sich zwei Langohren.
Rechter Hand befand sich eine frische Kultur, stellenweise mit
hohem Gras und kleineren Büschen bewachsen. Dahinter schloß sich
Altholz an. Eine Bewegung am Rande der Kulturfläche schräg hinter
dem Sitz zog meine Blicke auf sich. Sofort erhöhte sich mein
Pulsschlag. Ich glaste die Stelle ab. Eine Ricke stand, halb
verdeckt von einer jungen Birke, sichernd an der Hochwaldgrenze, um
gleich darauf auf die Kulturfläche zu wechseln. Dahinter sprang ein
munteres Kitz umher, mal ein Stückchen abseits, dann wieder der
Mutter nach, die immer weiter in die Kultur hineinging. Ich
versuchte beide mit den Blicken zu verfolgen. Nun stand die Ricke
hoch auf einem Erdwall, so dass ich sie mit dem Glas gut ansprechen
konnte. Jung war sie - und sehr kräftig. Ich nickte zufrieden. Was
war aber der Grund für ihre gespannte Aufmerksamkeit? Etliche
Minuten sicherte sie in Richtung Buschwerk hinter der Kanzel. Und da
bewegte sich mit einem Mal noch etwas. Ich bemerkte ein zweites Kitz
an dieser Stelle. Aber was war das?
Es konnte kaum laufen, knickte immer wieder mit dem linken Vorderlauf
ein und versuchte ihn hin und wieder gänzlich zu schonen. Gespannt
beobachtete ich es durch mein Fernglas, konnte jedoch beim besten
Willen die Ursache seines Lahmens nicht erkennen. Das gesunde Kitz war
zu seinem Geschwister geeilt und animierte es zum Spielen. Ich mußte
das Lachen unterdrücken. Es wirkte gar zu drollig, wenn das gesunde
Kitz mit regelrechten Bocksprüngen einige Meter auf das andere
zueilte, um es dann zu umrunden und genauso lebhaft große Bogen um
Ricke und das zweite Kitz schlug. Irgendwann gab es jedoch sein
Vorhaben auf, das andere zum Spielen zu verführen. Es eilte davon und
„flitzte“ am Altholzrand immer hin und her, stand einen Augenblick
still und jagte wieder weiter. Ricke und krankes Kitz ästen
unterdessen, nunmehr dicht beieinander stehend. Ich versuchte
beharrlich herauszufinden, weshalb das Kitz den Lauf so stark schonte.
Mir tat es leid, konnte jedoch keine äußere Verletzung erkennen. Die
Rehe waren gut achtzig Meter von mir entfernt. Was tun? Mein Kopf
arbeitete fieberhaft und mein Jungjägerherz pochte. Noch war
Schonzeit. Laufverletzungen sind Gründe für einen Sanitärabschuss, das
hatte ich gelernt. Hm, gut... Doch konnte es nicht sein, dass es sich
nur den Lauf verzerrt hatte? Beim Spielen vielleicht? Der Tod eine
Erlösung? Oder doch nicht? Im Zweifelsfalle den Finger gerade lassen.
Ich dachte an die Belehrungen meiner beiden Jagdlehrer. Damit stand
mein Entschluss fest. Behutsam nahm ich den Drilling wieder aus dem
Fenster.
Das Kitz bot einen anrührenden und bedauernswerten Anblick. Es
humpelte auf drei Läufen der Mutter nach, schonte den kranken Lauf
vollends. Die Ricke und das gesunde Kitz zogen weiter, waren nun auf
meiner rechten Seite angelangt und wollten scheinbar in die schräg vor
dem Sitz befindliche Dickung einwechseln. Immer wieder verhoffte die
Ricke, um auf ihr krankes Kitz zu warten. Es ging mir zu Herzen, als
nun auch das gesunde Zwillingskitz zum anderen zurückkehrte, um es
geduldig zu begleiten. Dann waren alle drei Rehe in der Dickung
verschwunden.
Ich holte tief Luft. Mein Puls beruhigte sich. Vorhin hatten meine
Hände bedenklich gezittert, als ich die Entscheidung treffen musste,
ob ich schießen sollte oder nicht. Ich nahm mir vor, fast täglich nach
dem Kitz zu schauen. Sie hatten hier ihren Einstand, ich würde sie
wiedersehen, das wusste ich. Eine Woche, so dachte ich, eine Woche
abwarten und dann abwägen ...
Zu Hause angekommen, berichtete ich vom erlebten Schauspiel.
„Oh, das arme Kitz! Darf ich das nächste Mal mitkommen?“ fragte
aufgeregt mein Sohn.
Ich dachte nach. Sollte ich es doch erlegen müssen, wie würde der
Junge reagieren? Ich hatte den Sechsjährigen mal auf Taubenjagd
mitgenommen, das war spannend gewesen. Doch wie würde er die
Geschichte mit dem so niedlichen Kitz beurteilen und verarbeiten?
Nein, das war mir zu riskant.
Zwei Tage darauf konnte ich wieder auf der „Wiesenkanzel“ ansitzen.
Und tatsächlich erschien meine kleine Familie fast zur selben Stunde.
Enttäuscht stellte ich jedoch fest, daß sich der Zustand des Kitzes
noch immer nicht verändert hatte. Ich sah nur die Ricke mit ihrem
gesunden Kitz ins Altholz abziehen. Und richtig. Hinter einem Busch am
Rand der Kultur lugten die Lauscherspitzen „meines“ Kitzes hervor. Es
hatte sich niedergetan und blieb allein zurück, so, wie es wohl zwei
Tage zuvor an dieser Stelle gewartet hatte, bis die Ricke es abholte.
Und trotzdem rührte ich das Gewehr nicht an. Was soll’s, dachte ich,
bei uns Menschen dauert es auch länger als zwei Tage, bis eine Zerrung
abheilt. Ich war fest entschlossen Geduld zu bewahren. Schießwütige
Jäger kannte ich ja zur Genüge. Ich empfand es als Prüfung meiner
jagdlichen Einstellung, der Beherrschung meines Ehrgeizes.
So baumte ich zeitig ab, da ich nicht die Absicht hatte, noch weiter
an diesem Ort für große Unruhe zu sorgen. Und ob ich beim Anblick
eines Bockes diese Vorsätze noch hätte einhalten können, da war ich
mir nicht sicher. Daher lieber erst gar nicht in Versuchung kommen.
Als ich Jäger G. tags drauf begegnete, erzählte ich ihm vom Kitz. Er
lächelte und es schien mir, als sei es ein zufriedener
Gesichtsausdruck gewesen. „Mach nur, was du für richtig hältst“, sagte
er, und weiter: „Ich gehe die nächste Zeit nicht auf die Kanzel. Sieh
zu, was daraus wird.“
Bei meinem nächsten Ansitz hatte ich leider kein Glück. „Mein“ kleiner
Sprung trat an diesem Abend nicht aus. Dafür wurde ich jedoch mit dem
Anblick eines schwachen Sechserbockes belohnt, der allerdings für die
Doppelflinte, die ich in dieser Woche erhalten hatte, in zu großer
Entfernung stand. Schade, aber so war das nun mal zur damaligen Zeit.
Mit dem Flintenlaufgeschoss über die fünfzig Meter hinaus zu schießen,
ging allein zu Lasten des Wildes. Ein Thema für sich...
In der darauf folgenden Woche fand ich einfach keine Zeit, um im
Revier nach dem Rechten sehen zu können. Am Samstag war es jedoch dann
endlich soweit. Nach einem extrem heißen Tag hatte sich am späten
Nachmittag ein kräftiges Gewitter entladen. Als der Sturm sich verzog
und der Donner nur noch in der Ferne grollte, saß ich bereits im Auto,
um diese Gunst zu nutzen. Bei meinem Eintreffen lag das Revier bereits
im goldenen Schein der Abendsonne. Ich nahm die Waffe vom Rücksitz,
setzte den Hut auf, hängte das Fernglas um und stieg den Hang hinab,
um auf dem Rückeweg möglichst geräuschlos durchs Altholz zur Wiese zu
gelangen. Es roch nach frischer Erde und modriger Streu. Um zur Kanzel
zu kommen, musste ich allerdings rund achtzig Meter weit quer über die
Wiese laufen. Bevor ich den schützenden Wald verließ, kontrollierte
ich das Gebiet mit dem Glas. Und tatsächlich! Da standen bereits
mehrere Rehe zur Äsung auf der Wiese. Eine scheinbar ältere Ricke mit
einem einzelnen, aber sehr kräftigen Kitz, hielt sich am rechten
Waldrand auf, und linker Hand, gleich neben der Kanzel, erkannte ich
meine Drei. Waren sie es wirklich? Ich schaute angestrengt durchs
Glas, bis mir die Augen tränten, denn ich konnte kaum glauben was ich
sah:
zwei muntere Kitze, mal ruhig äsend, mal ausgelassen auf
der Wiese umhertobend, mit ihrer Mutter. Wahrhaftig! Der Habitus der
Ricke ..., das Größenverhältnis der beiden Kitze ..., sie mussten es
sein. Also doch! Es hatte sich um keine gravierende Erkrankung des
Kitzes gehandelt. Ich fühlte mich herrlich, hockte mich nieder, lehnte
mich an einen Baumstamm und beobachtete die Rehe noch eine Weile.
Irgendwie hatte ich das zufriedene Gefühl, als sei mit einem Mal die
gesamte Welt in Ordnung - jedenfalls meine.
Von diesem Tage an ließen G. und ich die Kinderstube des Reviers erst
mal in Ruhe. Zu Hause entschädigte mich die Freude meines Sohnes über
den Bericht der Genesung des Kitzes zum zweiten Mal. Und den
erhofften, etwas stärkeren Bock, erlegte ich nur wenige Tage später
auf einer benachbarten Leiter. Der September brachte mir dann sogar
mein erstes Stück Rotwild.
ENDE
Anmerkung: Das zweite Bild zeigt diese Kanzel. Als es entstand, war
die Kultur jedoch gerade erst angelegt.
Text und Fotos © Hildruth Sommer