Entenklau
Aus der Lehrzeit geplaudert
Heiner war Jagdeleve. Heiner war nicht der Größte, nicht der Schönste,
aber clever. Es war Wochenende und Heiner hoffte, dass sich diesmal
einer der Jäger seiner Gruppe erbarmt und ihn zur Jagd mit hinaus
nimmt. In der letzten Woche war in dieser Hinsicht alles
schiefgelaufen. Zuerst bekam Walter, den Heiner öfter zur Jagd
begleiten durfte und der sich um Heiners Ausbildung kümmert, beim
wöchentlichen Waffentausch kein Gewehr. Er war nicht mal mit Aussetzen
an der Reihe gewesen, darauf hätte man sich ja noch einstellen können,
aber das war unplanmäßig. Die Waffen reichten nämlich nicht für alle
Jäger der Gruppe, dadurch traf es jeden von ihnen immer mal mit einer
jagdlichen Zwangspause. Gerecht ging das allerdings nicht immer zu.
Die Jagdleiterin achtete nicht darauf. Sie ließ die Jäger
untereinander um die Waffen streiten. Schließlich brauchte sie sich
selbst keine Sorgen zu machen, verfügte sie doch als Förster über
einen Drilling. Das heißt, sie nahm ihn sich einfach, denn eigentlich
stand er der gesamten Jagdgruppe zu. Auch das ignorierte sie. Nur wenn
sie selber keine Zeit zum Jagen hatte, stellte sie den Drilling der
Gruppe zur Verfügung. Und die Jäger wagten kaum, ihr Paroli zu bieten,
hätte irgendwann sicher nachteilige Folgen.
Walter hatte sich leider am vorangegangenen Freitag aus beruflichen
Gründen verspätet, na und da war schlicht keine Waffe mehr vorhanden.
Dumm gelaufen...
Heiner konnte nicht verstehen, weshalb Walter vieles so
widerspruchslos hinnahm. Und so fragte er das letzte Mal die anderen
Jäger, ob sie ihn zur Jagd mitnehmen würden - doch die verfügten
allesamt über blendende Ausreden. Nach drei Abfuhren dieser Art hatte
auch Heiner die Nase voll und begnügte sich mit einfachen Pirschgängen
in Walters Hegebereich.
Derartige „Enttäuschungen“ hatte er nun schon seit eineinhalb Jahren
zu verkraften, daran gewöhnen würde er sich allerdings nie! Jetzt, in
seiner Situation als Jägeranwärter, hatte er eben nichts zu melden. Im
Gegenteil: ein „falsches“ Wort und er könnte sicher seine Träume zu
Grabe tragen. Vielleicht ging es den anderen einfach nur ähnlich? Mit
einem Aufbegehren ihre Jagdmöglichkeit zu verlieren?
Heiner seufzte. Es widerstrebte ihm, den Mund zu halten, wenn etwas
unfair verlief.
Er war nun an der Waffenkammer der Jagdgruppe angekommen. Einige Jäger
standen auf dem Parkplatz zusammen und unterhielten sich. Man wartete
auf die Jagdleiterin. Heiner blieb lieber im Auto. Ein Kopfnicken zur
Begrüßung, das reichte.
Nach kurzer Zeit traf ein Jungjäger ein, den Heiner gut kannte. Jürgen
hatte ganze
zehn Jahre warten müssen, ehe man ihn endlich zur
Jagdprüfung zuließ. Gekämpft hatte er, hielt alles in allem mit keiner
Meinung hinter dem Berg, bekam dadurch immer wieder neuen Ärger. Ein
Jäger durch und durch, jeden Tag draußen im Wald. Heiners Ansicht nach
sogar zu oft, denn er hatte immerhin Familie. Seine Sache. Er mochte
Jürgen wegen dieser geraden Art. Heiner kletterte nun doch aus
dem Auto und begrüßte Jürgen, der wie immer gleich von den neusten
Jagdbegebenheiten berichtete. Und wie immer redete er sich dabei so in
Begeisterung, dass man von seiner Freude einfach mitgerissen wurde.
Bei Heiner mischte sich jedesmal ein klein wenig Wehmut bei, fast war
er neidisch auf Jürgen, der nun ohne Bettelei zur Jagd gehen konnte.
Wie gerne wäre er selbst dabeigewesen oder würde ebenso erzählen
können. Wenn er nur wüsste, wann er selbst endlich zur Prüfung
angemeldet wird. Aber da schwiegen sich die Verantwortlichen aus.
Allmählich trafen weitere Jäger ein. Erlebnisse wurden ausgetauscht.
Dann kam auch die Jagdleiterin - mit gewichtiger Miene wie immer. Was
folgte war die übliche Zeremonie: Rückgabe der Waffen, nach knapper
Kontrolle des Zustandes der Gewehre die Austragung im Buch, die
Registrierung der verbrauchten Munition und... last, but not least...
die erneute Ausgabe, der eigentliche Waffentausch. Wer von den Jägern
seine neue Jagdwaffe besaß, dazu die knapp bemessene Munition in
seinem Etui verstaut hatte, machte sich mit einem kurzen: "Na dann,
Weidmannsheil allerseits!" flugs auf den Weg nach Hause.
Jürgen wartete draußen auf Walter, der eine Doppelflinte bekommen
hatte, Heiner im Schlepptau.
"Wie wär´s denn, Walter, wollen wir gleich mal gemeinsam auf
Entenjagd?" fragte Jürgen.
"Wohin denn? Auf dem Brandteich sind keine, hab gestern schon mal
geschaut. Ginge ja sonst nur noch in Kerstens Hegebereich" brummelte
Walter missmutig und weiter: "Aber der lässt ja keinen zu sich rein."
Jürgen grinste. "Das geht schon in Ordnung, Walter. Kersten ist diese
Woche verreist und hat zugestimmt. Ich habe ihn gestern getroffen und
gleich gefragt".
"Ach, deshalb ist er heute noch nicht hier! Ich habe schon gedacht, er
habe sich tatsächlich selbst mal verspätet", antwortete Walter
sichtlich erleichtert und äußerst erfreut über die sich eröffnenden
Möglichkeiten herrlichster Entenjagd. Kerstens Teiche waren nämlich
entensicher.
Heiner sah hoffend zu Walter. Der schien wegen der tollen
Jagdaussichten bester Laune zu sein, zwinkerte Heiner zu und fragte:
"Willste mit?"
Und ob Heiner wollte! Doch dann blickte er betreten an sich hinab. Er
trug Straßenschuhe und war auch sonst nicht grade für die Jagd und die
herrschenden Wetterverhältnisse gerüstet. Um nochmals nach Hause zu
fahren blieb keine Zeit, das war zu weit.
Jürgen schien seine Gedanken zu erraten: "Mensch, das ist doch kein
Problem, Heiner. Jacke, Hose und Stiefel für dich habe ich allemal
noch daheim." Sie machten sich sofort auf den Weg. Walter würde
vorausfahren und an Kerstens Teichen auf sie warten. Jürgen wohnte
gleich um die Ecke. Als beide kurze Zeit später bei Walter eintrafen,
begrüßte sie dieser zunächst mit einer Lachsalve. Heiner schaute
Walter verdutzt an. Doch dann schien er den Grund seiner Heiterkeit zu
verstehen. Heiner sah ja auch wirklich zum Schießen aus! Jürgens Hose
reichte ihm bis über die Brust und wurde von breiten Hosenträgern
gehalten. In den Stiefeln hätte er getrost Kahn fahren können. Und die
Jacke ... naja, zwei Mann von Heiners Sorte hätten bequem darin Platz
gefunden. Nun fiel auch Jürgen in das Gelächter ein, als habe er
Heiner zum ersten Mal richtig betrachtet.
„Eine Vogelscheuche hat ein besseres Outfit als du, haha ..!" Jürgen
bog sich, und Heiner machte gute Miene zum Spiel auf seine Kosten.
"Wollen wir nun endlich? Sonst streichen die Enten an und ihr kommt
vor lauter Kichern zu keinem einzigen Schuß!" erinnerte er die beiden
grimmig an ihr gemeinsames Vorhaben.
Nach kurzem Anmarsch hatten sie die beiden Teiche erreicht. Malerisch
eingebettet lagen sie einsam und still, umgeben von hohen Fichten. Nur
eine Seite, die zu den Weidewiesen, war offenes Gelände. Jürgen bezog
seinen Stand hinter den Büschen am Rande des kleineren Teiches, der
sich abseits der Wiesen direkt am Hochwald befand. Walter und Heiner
standen an der ersten Baumreihe neben dem größeren der beiden Weiher.
Es dämmerte. Es war Heiners erste Entenjagd, an der er teilnehmen
durfte, und entsprechend groß war die Nervosität. Plötzlich vernahm er
das typische Geräusch anstreichender Enten. Sein Blick wanderte zu
Walter, der die Waffe im Jagdanschlag hielt und konzentriert nach oben
blickte. Heiner wusste, dass Walter ein glänzender Schütze ist. So
manchen Wettkampf im Wurftaubenschießen hatte er schon als Sieger
beendet. Die ersten Enten flogen vorüber, dann fielen fast
gleichzeitig mehrere Schüsse. Bautsch, bautsch! Immer wieder. Die
Enten, die Walter passierten oder von ihm nicht erreicht werden
konnten, wurden von Jürgen aufs Korn genommen. Dann trat schlagartig
Stille ein. Heiner hatte eine Ente mit lautem Quäken tief in den Wald
abstreichen sehen. Sonst konnte er keinen Treffer bei Walter
vermerken. Ob er sich da getäuscht hatte?
Doch Walters Reaktion sprach Bände und ersparte notwendiges Fragen.
Fluchend lud er seine Flinte nach und brabbelte unverständliches Zeug
vor sich hin. So gut kannte ihn Heiner schon, um zu begreifen, sich
jetzt möglichst fern von ihm zu halten, da Walter wider Erwarten
scheinbar keine der Enten getroffen hatte. Walter kam zu ihm herüber.
"Gibt es nicht, alles vorbeigegangen! Darf nicht wahr sein! Und dabei
wird es bald völlig finster. Ich fasse es nicht! Pass auf, beim
nächsten Strich treffe ich bestimmt, und diese Enten schenke ich dann
dir ... sollte es noch was werden."
Die letzten Worte kamen zögerlicher über Walters Lippen, als zweifle
er nun doch am gesamten Erfolg des Abends. Heiner nickte nur. Was
sollte er darauf sagen? Doch da rauschte es schon wieder über den
Baumwipfeln. Bumm, bumm! Das war Jürgen. Und dann krachte unmittelbar
neben ihm Walters Flinte. Der zweite Schuss saß. Klatschend landete
die Ente im Wasser. Und noch einmal war Jürgen am Zuge, dann trat
wieder Ruhe ein. So still blieb es dann auch. Nichts tat sich mehr
über den Teichen. Ganz fern hörten sie noch ein vereinzeltes quääk,
quääk ...
"Das war's für heute." Walter nahm die leeren Patronenhülsen aus dem
Lager und atmete tief durch. Heiner freute sich. Eine Ente war sicher,
er hatte noch nie Wildente gegessen. Walter musste die Taschenlampe
benutzen, um den Weiher nach der Ente abzusuchen, so dunkel war es
zwischenzeitlich geworden. Jürgen kam strahlend auf sie zu. Er hielt
zwei Erpel freudig in die Höhe. Er wurde von Walter ehrlich
beglückwünscht. Auch Heiner wusste, was sich gehörte.
"Ja, da fehlt eben ein ordentlicher Hund", meinte Walter bedauernd und
wies auf den Weiher, auf dem weit draußen die erlegte Ente lag, im
Astwerk verfangen. Walter war früher ein guter Hundeführer gewesen.
Nun sollten die Jungen ran, er selbst sei zu alt, um einen neuen Hund
jagdlich zu führen, sagte er kürzlich zu Heiner.
"Ist denn da gar nichts zu machen?" fragte ihn Heiner und sah
buchstäblich den köstlichen Braten davonschwimmen.
"Zu weit, zu tief." Jürgen schüttelte den Kopf.
Sie machten sich auf den Rückweg. Walter meinte noch, dass er, falls
er Zeit habe und vom Hausbau wegkäme, vielleicht mit dem Drahthaar des
Nachbarn am nächsten Tag zum Teich fahren würde. Das "Vielleicht"
betonte er deutlich. Auf jeden Fall solle Heiner am nächsten Abend mal
zur Kirrung kommen. Möglicherweise habe man mit den Sauen mehr Glück.
Und dann schälte sich Heiner aus den viel zu großen Klamotten und
verabschiedete sich von den beiden.
Zu Hause gab es erstmal ein Donnerwetter. Schließlich hatte keiner
gewusst, wo Heiner abgeblieben war. Richtig. Er hatte nicht mal
angerufen, obwohl es möglich gewesen wäre. Doch als endlich für
seinen Bericht von der Entenjagd die nötige Ruhe herrschte, wurde
seine Frau still, verdächtig ruhig sogar.
"Ich hab's!" rief sie urplötzlich. Und: "Andreas! Das ist die
Lösung!"
Heiner begriff nichts. Andreas war ihr Nachbar. Aber was hatte der
mit den Enten zu tun? Oder gar mit der Jagd?
"Der ist doch Angler", fuhr seine Frau fort. "Er bekommt die Ente
bestimmt aus dem Teich!"
Heiner lachte. Das war wirklich ein glänzender Einfall, wenn auch
etwas illusorisch. Und so machten sich Heiner und seine Frau auf,
klingelten beim Nachbarn und trugen ihm ihr Anliegen vor. Es wäre
doch schließlich zu schade um die feine Ente. Andreas hatte
nichts gegen einen Versuch
einzuwenden. Flugs wurde die Angelrute
im Auto verstaut und es ging
an diesem Abend zum zweiten
Mal an Kerstens Teiche. Heiners
Frau leuchte mit der Taschenlampe,
er selbst dirigierte und der
Nachbar angelte. Letzterer brauchte
wirklich nicht lange, bis der gezielte
Wurf glückte. Der Haken fand
im Federkleid guten Halt und langsam zog
Andreas die tote Ente an Land.
"Ein komischer Fisch!" lachte er
und drückte Heiner den Erpel in
die Hand. Heiner strich
andächtig über das glänzende
Gefieder. Nun hatte
dieser Abend drei Leuten Glück
gebracht, und jedem auf seine
Weise. Walter den Treffer, Andreas
durfte, sichtlich stolz, sein Geschick
zeigen und Heiner freute sich über den
guten Ausgang, nicht
ohne jedoch Andreas
zu strengstem Stillschweigen zu
verdonnern.
Heiner schlief in dieser Nacht
mit schlechtem Gewissen ein. Ob
Walter am nächsten Tag tatsächlich nach
der Ente suchen würde? Ach
was, bestimmt nicht. Dazu fehlte ihm
sicher die Zeit, wie so
oft. Und schließlich machte es keinen
guten Eindruck, wenn
die Ente da
draußen auf dem Wasser
schwamm. Was er getan hatte war
aber eigentlich Diebstahl. Oder
doch nicht? Schließlich hatte Walter ihm
diese Ente versprochen, sollte er
treffen. So hatte er es gesagt!
Sollte er ihm nun die Wahrheit
berichten? Die Müdigkeit setzte Heiners
angestrengten Überlegungen ein Ende.
Als er am nächsten Abend mit
Walter auf der Kanzel an
der Kirrung ansaß, fragte er ihn wie beiläufig nach
der Ente.
"Stell dir nur vor, so was aber auch... Die
Ente war weg!"
zischelte Walter aufgeregt.
"Wie..., was..., warst du... doch draußen?"
stammelte Heiner, bemüht gleichgültig zu
wirken.
"Na freilich. Habe Willis Hund genommen und bin
mittags raus. Aber da war keine Ente mehr! Kann ich
mir nicht erklären, wohin die abgekommen sein soll. Hab sie doch auf
dem Teich treiben sehen!" Ungläubig schüttelte der Jäger den
Kopf.
Heiner blickte zum Kanzelfenster hinaus
und grinste verstohlen. Er dachte an den
kommenden Tag. Ein Sonntag... mit Entenbraten.
ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer