Maria konnte ihn gut verstehen. Allmählich tauten ihre Zehen nun wieder auf. Die Sonne wärmte im Mai eben schon mächtig. Rasch hatte sich die empfindliche Kälte verzogen. Wie viele Kilometer sie schon gepirscht waren, wusste Maria nicht. Es war hoher Vormittag geworden. Anblick hatten sie gehabt, aber kein Abschussbock drunter. Sie rasteten am Rand von einem der zahlreichen Gräben, die etwa 20 bis mehr Meter in die Tiefe gingen, meist dicht bewachsen mit Buschwerk, den Rehen daher Schutz vor Wind und Wetter bietend. Diese Senken und Gräben zogen sich oft weit über 100 Meter in die Länge. Von weitem waren sie kaum zu bemerken.
Maria biss in ihre belegte Schnitte und auch Simon hatte sich was zu Essen mitgebracht. Da deutete Simon leicht auf den über ihnen liegenden Rand des Grabens. Nun gewahrte auch Maria den Bock. Ein kurzer Blick durchs Glas, Simon nickte. Also ein Abschussbock. Allerdings stand der bei weitem nicht frei, sondern war durch Stechginster geschützt. Nun hieß es, auf den Knien näher heranzukriechen. Nahezu die gesamte Fläche war mit Heide bewachsen, stellenweise zwar kniehoch, doch als Deckung nützte es wenig. Simon wollte noch näher heran, aber in einem kleinen Bogen. Zum einen, um den Bock frei vor die Büchse zu kriegen, zum anderen, um sicher aus dem Wind zu sein, wie er später erklärte. Er legte sich flach auf den Bauch und begann vorwärts zu robben, Maria tat es ihm nach. Mit dem Repetierer schräg über dem Rücken war das kein leichtes Unterfangen. Die Tasche hatte sie liegen lassen, denn es steckten genug Patronen im Magazin. Bislang hatte sie selten den zweiten Schuss gebraucht. Sie spürte zwar stellenweise die Nässe unter sich, doch war ihr das in dem Moment vollkommen gleich. Das Jagdfieber hatte sie gepackt.
Simon stoppte und richtete sich in Zeitlupentempo vor ihr auf. Er schaute noch einmal kurz durch sein Glas, blickte über die Schulter zurück zu Maria und stützte den Jagdstock schräg vor sich in den Boden, ihn mit beiden Händen am oberen Ende fassend. Ein Bein war aufgestellt, auf dem anderen kniete er. Maria wusste, was das hieß. Da sie dicht hinter ihm war, erhob sie sich in dessen Rücken ebenfalls auf die Knie, legte das Gewehr auf seiner rechten Schulter auf und nahm den Bock ins Visier. Dann begann Simon zu zählen. Bei "Drei" hielt er die Luft an. Nun musste es schnell gehen. Balkenspitze des Abkommens aufs Blatt und... rumms, krachte der Schuss. Der Bock brach zusammen. Das war der schönste Moment.... wenn wiedermal alles gepasst hatte.
Simon erhob sich, lief zum Bock, betrachtete ihn genau. Maria wartete. Sie musste sich wie immer erst beruhigen, denn das richtige Jagdfieber kam stets bei ihr erst nach dem Schuss. Vordem dämpfte es Konzentration.
Als sie zu Bock und Simon
trat, nahm Letzerer sie einfach wortlos in die Arme. Das war bei
Simons manchmal ruppiger Art verwunderlich. Er schüttelte Maria die
Hand und sagte plötzlich aus vollem Herzen: "Danke!" Maria bekam
große Augen.
"Danke,das war der Bock von gestern Abend. Hier ist der Treffer von
gestern".
Simon zeigte auf die längliche, halbrunde Wunde auf der obersten
Schulterpartie des Bockes. Sie war doch recht tief, breit
aufgeplatzt und mehr als zehn Zentimeter lang. Dass dies die Spur
einer Kugel war, konnte man sehen. Die Wunde war nass, schwärte
bereits.
Simon ließ Maria nicht aufbrechen. Es wäre seine Arbeit, meinte er trocken. Auch den weiten Transport bis zum Auto übernahm er selbst, obwohl Maria manchmal gegen seinen Protest zugriff. Gelegentlich zogen und trugen sie den Bock also beide und mussten hin und wieder auch Pausen einlegen. Auf die Entfernung bekam so ein relativ leichtes Böckchen doch auch Gewicht. Die Sonne stand nun hoch und es wurde sogar drückend. Die Brachvögel stiegen in die Lüfte und riefen, unter den Füßen raschelte die trockene Heide, der Wind pfiff sein unnachahmliches "Lied der Highlands". Maria und Simon plauderten, schwiegen, ganz wie ihnen war. Jeder wusste, was der andere empfand: Dankbarkeit und eine unendliche Liebe zu dieser Landschaft und zum Leben "da draußen".
Am Cottage fanden sich auch die anderen Jagdgäste ein. Simon kam leider nicht umhin, immer wieder zu betonen, dass Maria "den armen Kerl" erlöst habe, weil sie eben schießen könne. Ein bisschen war ihr das unangenehm, denn was derartige Kommentare bei manchen Jägern hervorrufen, wusste sie zu genau. So erntete sie natürlich böse Blicke vom Gast, der am Bock vorbeigeschossen hatte, und auch Marias Begleiter dieser Jagdreise bekam gerade mal ein gepresstes "Weidmannsheil" heraus, obwohl er ebenfalls Jäger war und sogar aus Freundschaft einen Abschuss von Simon geschenkt bekommen hatte. Aus falschem Stolz hatte er es abgelehnt, weil er ihn sich "nicht hatte selber kaufen können". Seine Firma war zuvor pleite gegangen, nicht sein Verschulden, aber ab da war er nicht mehr der Große, der er mal war - oder meinte zu sein. Sein eigenes Revier daheim hatte er ebenfalls abgeben müssen. Wermutstropfen eines ansonsten gelungenen Jagdtages und Marias Begleiter hatte sich danach von Simon noch Derbes, aber Wahres anhören müssen.
Bei Simon selbst herrschte Freude vor, dass der Bock doch noch zur Strecke gekommen war und Maria schwelgte noch immer in den Eindrücken der herrlichen Weite des Landes. Es waren nicht die letzten Jagdtage mit Simon in den Highlands, doch das wusste sie damals noch nicht. Wo Freundschaft Bestand hat, entscheidet innere Einstellung. Auch zu Schottland, der Jagd und vor allem zu sich selber.
ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer, Max Simon