Das Lied der Highlands.

Jagden in Schottland

Nach dem Tod ihres besten Freundes, gab es für Maria kaum etwas Schöneres, als mit Simon in der Heide zu pirschen. Dennoch - mitten in der Nacht das warme Bett verlassen zu müssen, kostete einige Überwindung. Es war Mai und am Morgen noch verdammt kalt in Schottlands Hills. Gleich würde Simon kommen, um sie zur Jagd abzuholen. Maria sprang wildentschlossen aus dem Bett. Die elektrische Heizung hatte für angenehme Temperaturen in dem kleinen Cottage gesorgt. Rasch einen Kaffee, denn ohne den in der Früh ist Maria nicht zu gebrauchen. Irgendwie musste sie  ihren Kreislauf auf Touren bringen. Für ein warmes Bad oder eine recht umständliche Dusche in der Wanne mit den Messingkupferhähnen blieb keine Zeit. Also ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht zum Munterwerden, rein in die Jagdklamotten, Kaffee und einen Bissen, um draußen nicht gleich umzufallen, ein paar belegte Schnitten als Wegzehrung in die Tasche und warten. Es dauerte tatsächlich nicht lange, da brummte draußen auch schon Simons alter Diesel dumpf vor sich hin. Der war wie immer bester Laune. Simon, nicht der Diesel gemeint. Letzterem war schlicht egal, zu welcher Uhrzeit er in Betrieb genommen wurde, Simon war solche frühen Betriebszeiten gewohnt.
"Und? Gut geschlafen, meine Liebe?" begrüßte sie ihr Gastgeber.
"Geht so...", erwiderte Maria.
Simon kurvte, auch wie immer, für Maria aber ungewohnt "auf falscher Seite" und echt schmalen Straßen in Richtung Hills. In Schottland war es freilich die richtige, nur schaffte es Marias Bauch einfach nicht, Linksfahren als richtig zu akzeptieren. Die engen Straßen taten ihr Übriges, um dem Kopf "Gefahr" zu flüstern, obwohl ihnen bis zu den Hills nicht mal ein Auto begegnete. Zum einen war das in dieser zeitigen Stunde kaum zu erwarten, zum anderen sind derartige Begegnungen dort sowieso selten, auch tagsüber. Links und rechts säumten hohe Stechginsterhecken den Weg und ließen selten Einblick auf Kommendes zu.
Endlich am Ziel bemerkte Maria die weiß bereiften Wiesen. Die Sonne schien, was in Schottland allerdings nichts zu bedeuten hatte, denn schon kurze Zeit darauf konnte das Wetter völlig umschlagen. Simon parkte sein Auto am Rand eines schmalen Waldstreifens. Maria vernahm die Rufe der Fasane. Vor ihr lagen unendliche Weiten, grüne Wiesen, unterbrochen von ausgedehnten Hecken in Gelb, Büschen und einem weiteren kleinen Baumbestand. In mehreren hundert Metern Entfernung leuchteten die noch immer braunen Heideflächen golden im ersten Morgensonnenlicht. Dort begannen die Highlands. Leise pfiff der Wind. Es war sagenhaft schön. Sie seufzte tief vor Ergriffenheit. Es erging ihr nie anders, wenn sie endlich in den geliebten Highlands stand. Falls man die Worte "frei" und "völlig unbelastet" verwenden möchte, dann war es genau der richtige Moment.



"Ich würde sagen, heute pirschen wir die Gräben ab, dort drin ist es komplett winstill", riss Simon sie aus ihrer Entzückung. Maria hängte sich Glas und Büchse um, es war eine von Simon, griff nach der Jagdtasche mit Patronen und Verpflegung und stapfte ihm nach. Trotz Bewegung spürte sie, wie ihre Zehen in den Schuhen immer klammer wurden. Verflucht, warum hatte sie nur diese dünnen Socken an? Sie wusste doch, wie kalt es hier draußen war. Da musste sie jetzt durch. Simon berichtete ihr, ab und an stoppend und die Flächen abglasend, von der Jagd am Vorabend mit einem zahlenden Gast, der ihm unsympathisch war. Große Klappe und wenig Praxis dahinter, aber alles besser wissend und so tun, als wäre er dort zu Hause... das war Simons Kommentar zur Person. Der Jagdgast hatte einen Bock gefehlt und selbst die Nachsuche hatte nichts erbracht. So etwas ärgerte Simon gewaltig, zumal der Bock verletzt zu sein schien, gekrellt, wie er meinte. Das wären eben die Folgen von geringer Jagdpraxis daheim. Dann werden die Gäste zu aufgeregt, falls sie Wild vor die Büchse kriegen, so dass die Kugel nur ins Ziel gezittert würde. Wieder ein Tier mit unnötigem Leiden.

Maria konnte ihn gut verstehen. Allmählich tauten ihre Zehen nun wieder auf. Die Sonne wärmte im Mai eben schon mächtig. Rasch hatte sich die empfindliche Kälte verzogen. Wie viele Kilometer sie schon gepirscht waren, wusste Maria nicht. Es war hoher Vormittag geworden. Anblick hatten sie gehabt, aber kein Abschussbock drunter. Sie rasteten am Rand von einem der zahlreichen Gräben, die etwa 20 bis mehr Meter in die Tiefe gingen, meist dicht bewachsen mit Buschwerk, den Rehen daher Schutz vor Wind und Wetter bietend. Diese Senken und Gräben zogen sich oft weit über 100 Meter in die Länge. Von weitem waren sie kaum zu bemerken.

Maria biss in ihre belegte Schnitte und auch Simon hatte sich was zu Essen mitgebracht. Da deutete Simon leicht auf den über ihnen liegenden Rand des Grabens. Nun gewahrte auch Maria den Bock. Ein kurzer Blick durchs Glas, Simon nickte. Also ein Abschussbock. Allerdings stand der bei weitem nicht frei, sondern war durch Stechginster geschützt. Nun hieß es, auf den Knien näher heranzukriechen. Nahezu die gesamte Fläche war mit Heide bewachsen, stellenweise zwar kniehoch, doch als Deckung nützte es wenig. Simon wollte noch näher heran, aber in einem kleinen Bogen. Zum einen,  um den Bock frei vor die Büchse zu kriegen, zum anderen, um sicher aus dem Wind zu sein, wie er später erklärte. Er legte sich flach auf den Bauch und begann vorwärts zu robben, Maria tat es ihm nach. Mit dem Repetierer schräg über dem Rücken war das kein leichtes Unterfangen. Die Tasche hatte sie liegen lassen, denn es steckten genug Patronen im Magazin. Bislang hatte sie selten den zweiten Schuss gebraucht. Sie spürte zwar  stellenweise die Nässe unter sich, doch war ihr das in dem Moment vollkommen gleich. Das Jagdfieber hatte sie gepackt.






Simon stoppte und richtete sich in Zeitlupentempo vor ihr auf. Er schaute noch einmal kurz durch sein Glas, blickte über die Schulter zurück zu Maria und stützte den Jagdstock schräg vor sich in den Boden, ihn mit beiden Händen am oberen Ende fassend. Ein Bein war aufgestellt, auf dem anderen kniete er. Maria wusste, was das hieß. Da sie dicht hinter ihm war, erhob sie sich in dessen Rücken ebenfalls auf die Knie, legte das Gewehr auf seiner rechten Schulter auf und nahm den Bock ins Visier. Dann begann Simon zu zählen. Bei "Drei" hielt er die Luft an. Nun musste es schnell gehen. Balkenspitze des Abkommens aufs Blatt und... rumms, krachte der Schuss. Der Bock brach zusammen. Das war der schönste Moment.... wenn wiedermal alles gepasst hatte.

Simon erhob sich, lief zum Bock, betrachtete ihn genau. Maria wartete. Sie musste sich wie immer erst beruhigen, denn das richtige Jagdfieber kam stets bei ihr erst nach dem Schuss. Vordem dämpfte es Konzentration.

Als sie zu Bock und Simon trat, nahm Letzerer sie einfach wortlos in die Arme. Das war bei Simons manchmal ruppiger Art verwunderlich. Er schüttelte Maria die Hand und sagte plötzlich aus vollem Herzen: "Danke!" Maria bekam große Augen.
"Danke,das war der Bock von gestern Abend. Hier ist der Treffer von gestern".
Simon zeigte auf die längliche, halbrunde Wunde auf der obersten Schulterpartie des Bockes. Sie war doch recht tief, breit aufgeplatzt und mehr als zehn Zentimeter lang. Dass dies die Spur einer Kugel war, konnte man sehen. Die Wunde war nass, schwärte bereits.

Simon ließ Maria nicht aufbrechen. Es wäre seine Arbeit, meinte er trocken. Auch den weiten Transport bis zum Auto übernahm er selbst, obwohl Maria manchmal gegen seinen Protest zugriff. Gelegentlich zogen und trugen sie den Bock also beide und mussten hin und wieder auch Pausen einlegen. Auf die Entfernung bekam so ein relativ leichtes Böckchen doch auch Gewicht. Die Sonne stand nun hoch und es wurde sogar drückend. Die Brachvögel stiegen in die Lüfte und riefen, unter den Füßen raschelte die trockene Heide, der Wind pfiff sein unnachahmliches "Lied der Highlands". Maria und Simon plauderten, schwiegen, ganz wie ihnen war. Jeder wusste, was der andere empfand: Dankbarkeit und eine unendliche Liebe zu dieser Landschaft und zum Leben "da draußen".


Am Cottage fanden sich auch die anderen Jagdgäste ein. Simon kam leider nicht umhin, immer wieder zu betonen, dass Maria "den armen Kerl" erlöst habe, weil sie eben schießen könne. Ein bisschen war ihr das unangenehm, denn was derartige Kommentare bei manchen Jägern hervorrufen, wusste sie zu genau. So erntete sie natürlich böse Blicke vom Gast, der am Bock vorbeigeschossen hatte, und auch Marias Begleiter dieser Jagdreise bekam gerade mal ein gepresstes "Weidmannsheil" heraus, obwohl er ebenfalls Jäger war und sogar aus Freundschaft einen Abschuss von Simon geschenkt bekommen hatte. Aus falschem Stolz hatte er es abgelehnt, weil er ihn sich "nicht hatte selber kaufen können".  Seine Firma war zuvor pleite gegangen, nicht sein Verschulden, aber ab da war er nicht mehr der Große, der er mal war - oder meinte zu sein. Sein eigenes Revier daheim hatte er ebenfalls abgeben müssen.  Wermutstropfen eines ansonsten gelungenen Jagdtages und Marias Begleiter hatte sich danach von Simon noch Derbes, aber Wahres anhören müssen.

Bei Simon selbst herrschte Freude vor, dass der Bock doch noch zur Strecke gekommen war und Maria schwelgte noch immer in den Eindrücken der herrlichen Weite des Landes. Es waren nicht die letzten Jagdtage mit Simon in den Highlands, doch das wusste sie damals noch nicht. Wo Freundschaft Bestand hat, entscheidet innere Einstellung. Auch zu Schottland, der Jagd und vor allem zu sich selber.

ENDE

Text und Fotos © Hildruth Sommer, Max Simon