Der Apfelbock

Eine Jagd in Trier

"Du   machst   das  und   basta",   sagte   Jochen   zu   Maria   am   Telefon,   keine   Ausrede   mehr duldend.   Maria hatte ihren versprochenen Besuch auch schon lange hinausgezögert. Jochen   lebte  eben nicht   mal   nur   so   um   die   Ecke,   sondern   schlappe   500   Kilometer   entfernt. Trotzdem, es war zugesagt.  Und   so   kam   es   eines   Tages  doch zu   einem   schönen   Extraurlaub. Koffer gepackt und weg, begleitet von Ehemann und Kindern. Ein Teil von Jochens   Revier   lag   inmitten   der   Weinberge   an   der   Mosel.   Maria   war   bis dahin    eher    Ansitze    in    Fichtenwäldern    gewöhnt.   
Am   ersten, lauen   Jagdabend    saßen    sie aber in   einer   Apfelplantage   auf   den Rehbock    an.   Jochen   hatte   einen   Sitz   mehr als    100    Meter    entfernt    von   Marias Leiter eingenommen.    Gleich    nach    dem  Aufbaumen    sondierte    sie   erst mal die Umgebung.    Vor    ihr    lag    ein    langestreckter Wiesenstreifen.   Am   linken Ende   der   Wiese   stand   in   Sichtweite   die   Kanzel,   auf   der Jochen   saß.   Am   rechten   Wiesenende,   schräg   gegenüber   an einem   Waldrand,   befand   sich   eine weitere   Kanzel.  
Der   Schrei   eines   Fansans   ertönte.   Kurz   darauf   stolzierte   der   stolze   Hahn vor   ihr   durchs   Grüne.   Ein   für Maria  ungewohnter   Anblick,   denn   Fasane   gab   es   in   ihrer Heimat   nicht.   Sie   genoss   diesen   Anblick   und   seine   Rufe.   Da   gewahrte   sie einen   älteren   Jäger,   der   gerade   die   Leiter   zur   unteren   Kanzel   hinaufstieg.   Zu   dritt   an diesem   Abend...?   Davon   hatte   Jochen   nichts   erwähnt.   Drei   auf   engstem   Raum   -   das konnte      ja      was      werden.      
                                                       





Peng...      das      laute,      blecherne      Geräusch      ließ      Maria zusammenzucken.     Und     noch     einmal     ertönte     dieses     "Peng",     genau     unter     dem Apfelbaum.   Dieses   Mal   eher   ein   Ping,   so   singend   hoch   war   der   Ton.   Maria   schaute vorsichtig   hinunter.   Wo   hatte   sie   ihre   Augen   gehabt?   Ihr   war   beim   Aufbaumen   nicht   mal aufgefallen,    dass    sich    unter    dem    Baum    eine    Art    überdimensionaler    Auffangschüssel befand.   Die   hatte   sicherlich   etwas   mit   dem   Obstbau   zu   tun,   denn   ringsherum   standen viele   weitere   Apfelbäume mit diesen Blechen.   Die   vorreifen   oder   madigen   Äpfel   sausten   genau   da   hinein.
Bei solch einem Lärm sollten Rehe austreten? Und wieder machte es "Peng"...
Jochen   und   sie   hatten   eine   feste   Zeit   vereinbart,   zu   der   sie   beide   abbaumen   wollten und sich dann zu ihren Sitzen begeben.   Die  näherte   sich   rasch und   es   dämmerte   bereits,   aber   nichts   rührte   sich, kein Anblick.   Und   dann   trat doch     noch     am     gegenüberliegenden     Waldsaum     ein     Rehbock     zwischen     den Laubbäumen   hervor.   Allerdings   stand   der   weit   näher   an   Jochens   Kanzel,   denn   an ihrer.   Dem   gelegentlichen   Ping   und   Pong   unter   Marias   Apfelansitz   gönnte   der   Bock   nicht mal   einen   einzigen   Ruck   seines   Hauptes.  





Maria   überlegte.   Sie   hatte   von   ihrem   Jagdfreund zwar   alle   jüngeren   Abschussböcke   frei   bekommen,   doch   war   ihr   dieser   einfach   zu stark.   Was   galten   aber   hier   für   Kriterien?   Was   war   Zukunft,   was   Abschuss?   Nur keinen Fehler als Gast... Sie ließ den Finger gerade.
Plötzlich   gesellte   sich   zu   diesem   Bock   noch   ein   Zweiter.   Ein   astreiner   Knopfer,   wie   sie durch   das   Glas   freudig   erkennen   konnte.   Sie   wartete,   denn   der   stand   sogar   noch   näher bei   Jochens   Kanzel,   als   der   zuerst ausgetretene.   Bei   Jochen   blieb   aber    alles   ruhig.   Und   nun   nahm Maria   den   Knopfer  doch ernsthaft   ins   Visier.   Noch   stand   er   nicht   breit.   Es   sollte   ein   guter Treffer   werden,   also   Geduld.   Ping...   peng...   die   nächsten   Äpfel   rauschten   laut   hallend   in die Wanne.
Maria    zog    ab.    Das    Böcklein    sauste    kerzengerade    in    den Laubwald   hinein.   "Mist!"   schimpfte   sie.   Sie   wartete   noch   einen Moment,   aber   da   stieg   der   dritte   Jäger   bereits   die   Leiter   hinab. Jetzt   machte   sich   auch   Maria   auf,   um nach   dem   Bock   zu   schauen. Jochen    trat    ebenfalls    auf    die    Wiese,    als    sie    in    Höhe    seiner Kanzel   war.   Zu   dritt   gingen   sie   zum   Anschuss   und   danach   in den   Wald.   Das   Böcklein   lag,   war   tief   getroffen,   lebte aber   noch.   Der   dritte   Jäger   machte   kurzen   Prozess.   Er   zückte das   Jagdmesser...   ein   gekonnter   Griff   zum   Haupt   und   der   Bock hatte    sein    Leben    ausgehaucht.    "Abnicken"    heißt    es    in    der Jägersprache.  Maria   konnte   sich   über   den   Jagderfolg   genau deswegen nicht   freuen. Weshalb    war    sie    nur    so    tief    abgekommen?   




Nach    dem Urlaub   und   einem   völligen   Fehlschuss   stellte   sich   erst heraus,   dass ihre     neue     Bockbüchsflinte     einen     eklatanten     Mangel     im gesamten    System    besaß.    Ein    nicht    ausreichend    gehärtetes Metall,    welches    nach    jedem    Schuss    zur    Veränderung    des Abzugsgewichtes   führte,   stellte   der   Büchsenmacher   fest,   nahm die    Waffe    ohne    Probleme    zurück    und    Maria    wechselte    zu einem   anderen   Fabrikat.   Mit   dieser,   einer   Blaser,   war   sie   dann auch zufrieden.
In   dem   Moment,   als   der   Bock   vor   ihr   lag,   war der Umstand aber noch nicht bekannt und für   Maria   einfach   ein   schlechter   Schuss. Jochen    tröstete    und    stellte    Maria    dann    auch    dem    anderen Jäger   vor.   Der   war   Winzer   und   lud   sie   ein,   auf   seinem   Gut   den Jagderfolg   zu   feiern.   Sie   nahmen   seine   nette   Einladung   gerne an.
"Man,   habe   ich   gewartet",   sagte   Jochen   zu   Maria.   "Warum   hast du   denn   nicht   geschossen?   Der   erste   Bock   stand   doch   schon lange draußen." Maria erklärte ihm ihre Gründe.
"Selbst   beim   zweiten   Bock   hatte   ich   nicht   mehr   damit   gerechnet, dass   du   doch   noch   schießt.   War   richtig   erschrocken,   als   es   dann knallte", meinte Jochen noch und grinste. Als   ihr   Gastgeber   Maria   seine   Waffensammlung   zeigte,   staunte diese    nicht    schlecht.    Es    befanden    sich    etliche    Wilderergewehre darunter. Es    wurde    ein    lustiger    Abend,    denn    nicht    nur    der    Wein    war hervorragend,    sondern    auch    die    vielen    Geschichten,    die    der "Wilderer",   wie   ihn   Maria   fortan   nannte,   auf   Lager   hatte.
Er   war tatsächlich   mal   einer   gewesen.   Der   reguläre   Jagdschein,   zu   den man   ihm   immer   wieder   riet,   weil   er   es   gar   nicht   lassen   konnte, machte      aus      ihm      dann      einen      "gesetzlichen      Jäger".     
Die Eifersuchtsszenen,    die    Marias    wie    so    oft    schon    betrunkener Ehemann   nach ihrer Rückkehr   vom   Stapel   ließ   und  nicht mal   beim   Anblick   des   Böckleins   verebbten,   vergällten   ihr   jedoch den schönen Jagdabend im Nachhinein völlig.
Das   Böcklein   ist   schon   lange   Geschichte,   allerdings   rückwirkend doch eine  schöne.    Ihr    Ehemann    wurde    es    nämlich    nur wenige   Zeit   darauf   ebenfalls, nur eine nicht so angenehme.   An   den   Ansitz   unter   dem Apfelbaum dachte sie immer wieder gerne zurück.  

ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer

Diese    Geschichte    widme    ich    nachträglich    meinem    Jagdfreund Jürgen   K.   aus   Trier,   der   am   04.01.2014   viel   zu   früh   im   Alter   von   61 Jahren   gestorben   ist.   Er   erlag   auf   der   Jagd   in   seinem   Revier   einem Herzinfarkt.